Freitag, 8. Juli 2011

Angesichts der bevorstehenden politischen Umwälzungen wurden die Gefangenen in die Freiheit entlassen. Um ihnen aber Willen und Kraft einstweilen noch etwas zu brechen, und um dem allgemeinen Unbehagen über die neuen Umstände Ausdruck zu geben, ordnete die Lagerleitung an, jeden neunten Mann zu erschiessen. Der Befehl wurde bekanntgegeben, als bereits alle in Neunerkolonnen auf dem Appellplatz zur Entlassung bereitstanden. Obwohl ich als letzter Mann links aussen gar nicht mehr unter diese Neunerregel fiel, wurde auch für mich über den grossen Lautsprecher die Erschiessung angeordnet, da man vermutlich davon ausging, dass ich als Rest, der nach der Division durch neun bestehen blieb, als ein Sonderfall zu betrachten sei, der besonderes, unverschämtes Glück gehabt hätte. Man beeilte sich, dieses kleine Ärgernis zu beseitigen. In meiner Bedrängnis und Verzweiflung rannte ich zum nahen Zaun. In Erwartung von Maschinengewehrsalven machte ich mich daran, ihn zu übersteigen. Das schwierige Unternehmen gelang wunderbarerweise, weil gleichzeitig mit grösster Lautstärke und grimmiger Wut ein längerer politischer Text verlesen wurde, der alle Anwesenden erstarren liess, Die Wachtmannschaften versanken in eine Art von Trance, in der sie meine Flucht nur undeutlich wahrnahmen, und der Grossalarm wurde erst gegeben, als ich mich schon längst auf der anderen Seite des Zauns befand und mich nach Fluchtmöglichkeiten umsah. Ich fand in einiger Entfernung auf freiem Feld nur ein kleines, offenbar unbewohntes Haus, hinter welchem eine Strasse vorbeiführte. Schon hörte ich die ersten Verfolger hinter mir, und ich dachte bereits daran, mich in das Haus zurückzuziehen, um dort mein Leben so teuer wie möglich zu verkaufen, ich hatte nämlich ein Gewehr bei mir, als ein Auto nahte, mich sofort mitnahm und mit hoher Geschwindigkeit weiterfuhr. Ich war gerettet, denn es war abzusehen, dass wir bald Gebiete erreichen würden, die den Lagerbehörden nicht mehr zugänglich waren. Die weiteren Umstände sind mir nun nicht mehr deutlich in Erinnerung, es scheint aber, dass es schliesslich nicht mehr zu umgehen war, den Fahrer, der mich mitgenommen hatte, weil er mich irrtümlicherweise für einen Offizier des Geheimdienstes gehalten hatte, hinterrücks zu erschiessen.

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