Heute
muss ich von 9 bis 12 Uhr meinen Matura-Aufsatz schreiben. Ich stehe vor dem
Schulhaus und erwarte das Aufsatz-Thema von der schönen, unnahbaren und
strengen Deutschlehrerin. Sie erscheint und nennt mir das Thema: Der
Scharnwald. Ich erschrecke und kann rein gar nichts mit diesem Titel anfangen.
Ich bitte daher um eine genauere Umschreibung. Die Lehrerin antwortet
ungeduldig und etwas böse, dass das Thema dann eben heisse: Der Scharnwald und
seine Bedeutung für die Katastrophen des Zweiten Weltkrieges. Ich versuche nun,
diesem Thema einen Sinn abzugewinnen und gehe davon aus, dass es um das Werk
von Ernst Jünger geht. In den Schulstunden war nie die Rede von ihm. Ist es
nicht perfid, mir ein solches Thema aufzugeben? Von Jünger habe ich aber
glücklicherweise viel gelesen, gewiss viel mehr, als die böse Lehrerin annimmt,
aber auch wieder viel vergessen. Es ist nicht zu sehen, wie ich in drei Stunden
etwas Befriedigendes hinkriegen kann. Zudem werde ich jetzt noch aufgehalten,
denn in einem Raum des Schulhauses findet eine Hinrichtung statt. Eine grössere
Zahl von Häftlingen steht da, einen Strick um Hals. Eine Vorrichtung zum Hängen
aber sehe ich nicht. Das Urteil aber wird nun irgendwie vollstreckt. Ich will
nicht zusehen und wende mich ab. Die Verurteilten sind guter Dinge und lachen
noch eine oder zwei Minuten. Dann wird es still. Ich wende mich um und sehe,
dass nun alle tot am Boden liegen. Jetzt ist es schon 9.45 Uhr, und in zwei
Stunden sollte ich meinen Aufsatz fertig haben. Ich erwache und beginne, den
Aufsatz zu konzipieren. Was könnte ich erwähnen, ganz besonders, um die strenge
Lehrerin zu beeindrucken? Zitate von Jünger fallen mir nicht gleich ein, obwohl
ich viele Exzerpte gemacht habe. Immerhin kommen mir Stichworte in den Sinn:
Wäldchen! Es gibt bei Jünger irgendwo ein Wäldchen mit einer Nummer, 121
vielleicht oder 128. Waldgang, Waldgänger! Desinvolture, Frontkämpfer, Anpfiff,
Saufrass, Handgranate. «Kommen wir noch ins Feuer, Herr Oberst?» «Sie kommen,
sie kommen.» Damit könnte ich die Hexe, die mich hereinlegen will, überlisten
und mit Härte und Männlichkeit beeindrucken. Ich könnte über die Ruhe schreiben,
die den Waldgänger umgibt und beschützt, während in weiter Ferne ein
unaufhörliches schreckliches Geschrei und Geheul zu hören ist. Ich schlafe
nämlich wieder ein und höre, dass irgendwo allergrösster Jammer herrscht,
Todesnot, Entsetzen, Zähneknirschen. Irgendwo ist eine ungeheure und
ungeheuerliche Vernichtung im Gang. Oder könnte ich nicht auch höchst Gewagtes
und Ungewöhnliches zum Frontkämpfer
sagen? Dass auch jeder Liebende ein Frontkämpfer ist, der bis an die Zähne
bewaffnet aus seinem Schützengraben springt und zum Sturm einer feindlichen
Stellung ansetzt?
Mittwoch, 1. November 2017
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