Donnerstag, 30. Juli 2020


Silvesterabend. Kleine Gesellschaft, graue, unscheinbare Gestalten, Büromenschen, irgendwo etwas ausserhalb einer Stadt. Höchste Langeweile, niemand weiss, was machen, niemand kann was machen. Einige sind unternehmungslustig und gehen weg, in die Cooperativa, wie sie sagen, ein offenbar interessantes Lokal, aber sicher total überfüllt. Wir sitzen weiter herum. Sollte ich nicht ganz einfach nach Hause gehen und schlafen? Eine Praktikantin sitzt neben mir, auf einer unbequemen, altmodischen Bank, die einzige junge Frau unter uns. Aber unschön, dick, verschlossen, einsilbig, beschränkt, die uninteressanteste Frau der Welt. Ja, gewiss auch beschränkt. Aus lauter Verdruss und Langeweile gebe ich ihr, als es, wie ich meine, gerade niemand sieht, einen Kuss auf die Wange. Das ist Wahnsinn, das ist eine Ungeheuerlichkeit. Sie erstarrt. Ich sehe, dass ich eine Grenze überschritten und etwas ganz und gar Unverzeihliches gemacht habe. Gesehen hat es möglicherweise ihre Mutter, eine Bauersfrau, die auch mit uns im Zimmer sitzt, und die mich nun auch ganz entgeistert anschaut. Die junge Frau steht auf, sucht total schockiert andere Gesellschaft und findet diese auch. Einige Kollegen von mir, aktive, lustige Typen, wollen nun auch noch aufbrechen und ziehen sich bereits die Mäntel an. Gewiss erwarten sie, dass ich auch mitkomme. Das wage ich aber nicht, denn die junge Frau hat sich ihnen bereits angeschlossen und drängt auf Aufbruch. Ich bin noch nicht bereit und suche zögernd meinen Mantel, als ich sie bereits durch das Fenster eilig weggehen sehe. Ich entschliesse mich, nach Hause zu gehen. Den dummen Kuss bereue ich heftig. Er wird wohl noch Folgen haben und für dauerhafte Missstimmung sorgen. Wenn er nicht, was eine grauenhafte Vorstellung ist, aber wohl erwartet wird, von der Mutter wie von der Tochter, zu einer Erklärung meinerseits und einer Eheschliessung führen würde.

Keine Kommentare: