Silvesterabend.
Kleine Gesellschaft, graue, unscheinbare Gestalten, Büromenschen, irgendwo
etwas ausserhalb einer Stadt. Höchste Langeweile, niemand weiss, was machen,
niemand kann was machen. Einige sind unternehmungslustig und gehen weg, in die
Cooperativa, wie sie sagen, ein offenbar interessantes Lokal, aber sicher total
überfüllt. Wir sitzen weiter herum. Sollte ich nicht ganz einfach nach Hause
gehen und schlafen? Eine Praktikantin sitzt neben mir, auf einer unbequemen,
altmodischen Bank, die einzige junge Frau unter uns. Aber unschön, dick,
verschlossen, einsilbig, beschränkt, die uninteressanteste Frau der Welt. Ja,
gewiss auch beschränkt. Aus lauter Verdruss und Langeweile gebe ich ihr, als
es, wie ich meine, gerade niemand sieht, einen Kuss auf die Wange. Das ist
Wahnsinn, das ist eine Ungeheuerlichkeit. Sie erstarrt. Ich sehe, dass ich eine
Grenze überschritten und etwas ganz und gar Unverzeihliches gemacht habe.
Gesehen hat es möglicherweise ihre Mutter, eine Bauersfrau, die auch mit uns im
Zimmer sitzt, und die mich nun auch ganz entgeistert anschaut. Die junge Frau
steht auf, sucht total schockiert andere Gesellschaft und findet diese auch.
Einige Kollegen von mir, aktive, lustige Typen, wollen nun auch noch aufbrechen
und ziehen sich bereits die Mäntel an. Gewiss erwarten sie, dass ich auch
mitkomme. Das wage ich aber nicht, denn die junge Frau hat sich ihnen bereits
angeschlossen und drängt auf Aufbruch. Ich bin noch nicht bereit und suche
zögernd meinen Mantel, als ich sie bereits durch das Fenster eilig weggehen
sehe. Ich entschliesse mich, nach Hause zu gehen. Den dummen Kuss bereue ich
heftig. Er wird wohl noch Folgen haben und für dauerhafte Missstimmung sorgen.
Wenn er nicht, was eine grauenhafte Vorstellung ist, aber wohl erwartet wird,
von der Mutter wie von der Tochter, zu einer Erklärung meinerseits und einer
Eheschliessung führen würde.
Donnerstag, 30. Juli 2020
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