Dienstag, 2. August 2016

Ich bin Parlamentarier, Mitglied des Nationalrates, ein ganz unscheinbarer, nahezu unbekannter Abgeordneter, der bisher nie im Plenum gesprochen hat. Ich muss auch davon ausgehen, dass mich die meisten anderen Parlamentarier gar nicht kennen oder jedenfalls kaum beachten. Da kommt am Mittwoch nachmittag, nach Schluss der Sitzung, die Meldung, dass ich morgen Donnerstag, um 8.00 Uhr, die nächste Sitzung präsidieren sollte. Aufgrund verschiedener Abwesenheiten und wohl auch politischer Spiele ist die Wahl auf mich gefallen. Wie das gehen soll, ist mir schleierhaft. Ich kennen zwar den Ratsbetrieb gut, habe aber keine Ahnung von der Arbeit des Ratspräsidenten. Ich denke sofort daran, dass ich morgen gewiss meinen dunklen Anzug anziehen muss. Was aber sagt man am Morgen, zur Begrüssung? Ich habe schon gehört, dass es ein Drehbuch gibt, in welchem alles, was gesagt werden muss, enthalten ist. Aber ist wirklich alles enthalten? Ich sehe einen Mitarbeiter des Generalsekretärs, den ich gut kenne, und winke ihn zu mir. Er ist in Eile und sagt, alles sei wie immer vorbereitet, man werde mir helfen. Es werde sicher keine Probleme geben. Wann ich dann am morgen kommen solle, frage ich ihn. Um sieben Uhr, sagt er, um sieben Uhr finde immer eine Vorbesprechung statt. Wenn er mir das nicht gesagt hätte, hätte ich es nicht gewusst. Nun muss ich also auch noch früher aufstehen. Ich sehe noch meine Mutter und rufe ihr stolz und erregt zu, morgen sei ich Ratspräsident! Dann erwache ich, bleibe aber noch längere Zeit im Traum gefangen und überlege mir, wie ich mich noch vorbereiten könnte. Was geschieht bei Abstimmungen? Was bei komplizierten Abstimmungen, mit Mehrheiten und Minderheiten? Wie werden die einzelnen Geschäfte und die Berichterstatter und die Redner aufgerufen? Was geschieht, wenn ich die vielen Namen nicht kenne? Wie ist das Präsidentenpult eingerichtet? Auf welche Knöpfe muss ich drücken, welche Anzeigen lesen? Am besten wäre es, wenn ständig ein Mitarbeiter des Präsidiums neben mir stehen würde. Das aber wäre dann wieder ziemlich lächerlich und würde meinen schlechten Ruf als weitgehend unfähigen Parlamentarier noch weiter verstärken. Mit Mühe und Not kann ich mich wieder in mein gutes altes Leben zurückretten.

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