Dienstag, 20. Oktober 2009
Wir sind auf einem Ausflug, versammeln uns in einem schmucklosen Raum eines einfachen Landgasthofes, wir sind Fremde hier, eine kleine Gruppe, Verwandte, Freunde, Mitschüler, Lehrer. Es ist nicht so ganz klar, warum wir überhaupt beisammen sind, irgendein Treffen, eine unschuldige Zusammenkunft. Plötzlich gibt es Lärm und Rufe, draussen auf der Strasse haben sich Leute versammelt. Sieg Heil! Sieg Heil! rufen sie. Wir erschrecken, erstarren. Was soll das? Sind etwa wir gemeint, will man uns angreifen? Wir sind uns keiner Schuld bewusst, denken aber plötzlich, dass es möglich sein könnte, dass der versammelte Mob vermutet, dass Schwule unter uns sind. Das wäre keine ganz abwegige Vermutung, es ist so, wir haben zwei Cousins, von denen man hinter vorgehaltener Hand sagt, sie seien schwul. Sieg Heil! Sieg Heil! Wir verharren unbeweglich und stumm, erwarten ängstlich das Kommende. Was wird man tun? Steine durch das Fenster werfen? Eine Brandbombe? Wir stehen auf, gehen zur Glastüre, die in den Gasthof führt, stellen fest, dass sich auch vor der Türe Menschen versammelt haben, die schweigend wartet. Pssstt, ruft man aus unserer Gruppe, als wir zur Türe gehen, die warten ja nur darauf, bis jemand herauskommt. Es bleibt so weiter alles still, wir wissen nicht, wie es weitergehen soll und was man von uns erwartet. Vielleicht sollten wir selber auch Sieg Heil rufen, vielleicht würde uns das helfen, vielleicht erwartet man nur darauf, dass wir das tun, und wird dann lachend auseinandergehen.
Sonntag, 18. Oktober 2009
Dann sitze ich einer Mutter gegenüber, Alleinerziehende, schlank, nicht unschön, aber mit verbitterten und enttäuschten Zügen. Mit ihrem Sohn ist leider etwas ganz Unerfreuliches passiert, ich bin sein Klassenlehrer und muss den Fall nun mit der Mutter besprechen. Ich habe sie vor dem Schulhaus getroffen und sie zum Sitzen eingeladen, auf einer Parkbank, was sehr intim wirkt. Wir bilden fast ein Liebespaar, das spüren beide. Es geht aber leider um etwas sehr Ernstes. Soll ich zuerst meinen Standpunkt darlegen, sage ich. Ja, sagt sie. Ich bin gut vorbereitet und habe alles, was ich sagen will, genau im Kopf. Also zuerst, sage ich, möchte ich vorausschicken, dass ich die Klasse zu einem sehr ungünstigen Zeitpunkt übernommen habe, nämlich zwei Tage vor dem Klassenlager. Und dabei erst noch direkt vor der Matur, fügt sie bei. Ja, natürlich, direkt vor der Matur, sage ich und sehe ihr in die besorgten Augen. Und hinzu kommt auch, dass es zwei weitere Problemfälle gibt, die sogar noch grösser sind als der Fall mit ihrem Sohn. Sie schaut uns verständnisvoll an, das beruhigt uns, wir denken, dass nun das Gespräch doch wohl in guten Bahnen verlaufen wird, auch wenn wir eigentlich überhaupt nicht im Bild sind, was denn eigentlich passiert ist.
Freitag, 16. Oktober 2009
Wir erwachen durch einen heftigen Tritt, den wir gegen einen Banditen geführt haben. Wir waren als unbeteiligter Zuschauer dabei, als man Mitgliedern einer kriminellen Bande ein Erkennungszeichen in den Hals brannte. Man packte uns und erklärte, wir würden nun auch in die Bande aufgenommen. Unser Schreck und unsere Verzweiflung waren gross, denn die Aufnahme in die Bande ist unwiderruflich und bringt für das weitere Leben strenge Verpflichtungen. Wir wollten uns wehren, mit allen Mitteln, auch mit völlig unzureichenden, und stiessen deshalb den Kerl, der sich mit dem Brenneisen näherte, mit dem Bein zurück.
Freitag, 9. Oktober 2009
Wir sind eingeladen, zu einer Feier, irgendein Fest, Sylvester vielleicht, oder erster Mai, bei alten Bekannten, von denen wir nie erwartet hätten, dass sie uns noch einladen würden, bei Leuten, die wir seit zehn oder zwanzig Jahren nicht mehr gesehen haben. Wir kommen viel zu früh, schon um halb sieben Uhr, es sind noch keine anderen Gäste da, es ist auch nicht klar, ob überhaupt noch jemand kommen wird, wer wollte denn da diesen alten Verein noch besuchen. Zunächst sind nur Kinder um uns, wir tollen mit ihnen herum, machen das Kalb, dazu sind wir noch gut, und aus einem Fenster des weitläufigen, alten Gebäudes, einer Art Bauernhaus, grüsst uns ein alter Knabe. Ja, ob wir uns denn nicht mehr erinnern würden, Paris, ja, Paris, irgendeine kleine harmlose Dummheit haben wir mit dieser auf eine verhältnismässig gemütliche Art verlotterten Figur gemacht, in Paris, vor fast vierzig Jahren. Er erinnert sich noch immer daran, wir uns nicht mehr, ganz vage fällt uns etwas ein, dann aber erscheinen doch plötzlich Gäste, und der Empfang nimmt Formen an. Eine kleine, seltsam gekleidete, noch junge Frau präsentiert sich als russische Adelige, von sehr altem Adel, Künstlerin, Prophetin. Wir stehen im Freien, auf einer Wiese in einem Obstgarten, Stühle stehen herum, Bänke, weitere Leute erscheinen, es wird auf einmal interessant, ganze Gruppen erscheinen nun, zwei Herren mit markanten Gesichtern, führende Architekten, sagt man mir, dann wieder rätselhafte Frauen, alle aus der Stadt, sagt man, und alle durchaus zugänglich, diese Abende seien bekannt dafür, dass man ganz zwanglos mit den grössten Berühmtheiten und den unzugänglichsten Dichtern und Denkern verkehren könne, wir sollen uns nur zu ihnen setzen, sagt man uns, sie würden gerne mit uns reden, wie wenn sie alte Freunde wären, jeder, der hier erscheine, würde diese Spielregeln beachten. Wir entscheiden uns für zwei schlanke, blonde junge Herren mit ganz vergeistigten Gesichtern, hochbegabte Pianisten sagt man uns, ganz ausserordentliche Menschen, wir setzen uns zu ihnen, in einem der hinteren Bereiche der Liegenschaft steht nämlich ein Flügel, auf dem sie nun eine ihrer Kompositionen darbieten wollen, nicht für die Gäste, sondern mehr nur für sich selber. Wir tun so, als ob wir sehr verständig wären und gebärden uns als Musikliebhaber, da findet uns unsere Gattin und setzt sich zu uns und will auch zuhören.
Donnerstag, 1. Oktober 2009
Und wir sind zum Tode verurteilt, werden geholt, aus der Todeszelle, und zur Hinrichtung durch die Giftspritze geführt, durch Gänge, Vorzimmer, Galerien. Wir haben keine Angst, es wird ja schon gehen, irgendwie werden wir erlöst werden von dieser Welt, auch wenn es vielleicht nicht ganz schmerzlos sein und einige Minuten dauern wird. Denn Pannen sind nicht auszuschliessen. Die Wärter, die uns führen, erwecken kein grosses Vertrauen, und die Verfahren der Hinrichtung sind scheinen veraltet. Ein Arzt ist auch erschienen, der uns eine grosse Spritze in den Oberarm verpasst. Sie werden so gar nichts spüren, sagt er, und pumpt aus einem altertümlichen Gerät einen halben Liter dubiose Flüssigkeit in unseren Arm, gruselige Militärmedizin. Wir aber hoffen, dass wir auch ohne diese Prozedur nichts spüren werden, beim heutigen Stand der Medizin sollte die Gefängnisindustrie doch in der Lage sein, einen Menschen schmerzlos hinzurichten. Man führt uns an einer dicken Glasscheibe vorbei, hinter welcher eben gerade eine Hinrichtung stattgefunden hat, ein Toter liegt dort auf einem Schragen, zusammengekrümmt. Es scheint, dass er nicht schmerzlos gestorben ist, aber gestorben ist er ja, immerhin, das ist die Hauptsache, und sterben werden jetzt auch wir. Wir haben keine Angst, auch nicht vor den Schmerzen, diese Schmerzen werden nicht ewig dauern, ewig können uns diese Idioten nicht plagen, einmal wird es vorbei sein, übrigens auch für sie.
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