Mittwoch, 19. August 2015


Und dann stehen wir auf einer langen schmalen  Fussgängerbrücke, einer Metallkonstruktion, die über einen breiten Fluss führt, über die Thames oder den Hudson oder sowas. Wir haben einen Fotoapparat und gewisse künstlerische Ansprüche und machen Aufnahmen von der kleinen Gruppe, mit der wir unterwegs sind. Drei junge Männer gingen voraus, drei junge Frauen folgen in einiger Distanz nach. Dazwischen kommt auch noch ein älterer Herr, ein lieber alter Arbeitskollege, ein gutmütiger, fleissiger, gewissenhafter Mensch. Auch von ihm möchten wir ein Porträt machen, wir versuchen es, ohne dass er uns sieht. Er geht aber zu schnell, und die Foto missglückt, sein Bild wird sicher verschwommen sein. Der gute alte Herr ist aber verängstigt und aufgeregt. Wir haben nämlich gemeinsam mit ihm und anderen ein Buch publiziert, woran er nur als Herausgeber beteiligt ist, nicht als Autor. Es sei ein Fehler gewesen, dieses Buch zu publizieren, erklärt er, es enthalte ja Pornografie, was er nicht gewusst habe. Jetzt würde uns eine Anklage und ein Prozess wegen der Verbreitung pornografischer Literatur drohen. Ja, ist es denn wirklich Pornografie? Wir wissen es selber nicht so genau. Aber möglich könnte es sein, es gibt, allerdings nur auf wenigen Seiten, einige schlimme Stellen. Und das Buch ist schon im Buchhandel, es gibt keine Möglichkeit mehr, es zurückzuziehen. Wir sagen unserem Kollegen, dass die Stellen doch einigermassen harmlos sein würden, in anderen Büchern wäre viel ärgeres zu finden. Ja, ruft er, du gehst vom Jahre 2011 aus, wir aber haben das Jahr 1957, leben im Jahre 1957 und nicht im Jahr, in dem das Buch geschrieben worden ist. Jetzt bekommen auch wir es mit der Angst zu tun, denn wenn wir tatsächlich 1957 leben, und daran kann kein Zweifel bestehen, dann ist die Unruhe, ja auch die Verzweiflung berechtigt. Dann ist unser Buch natürlich ein Skandal und wir müssen mit einer Anklage rechnen.

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