Freitag, 11. Januar 2013


Was für eine Parteiversammlung! Wir haben zu einer Parteiversammlung eingeladen. Es war höchste Zeit dafür, denn es ist April, und die letzte Versammlung fand vor sechs Monaten im November des Vorjahres statt. Als Parteipräsident sollten wir die Versammlung leiten, haben aber Schwierigkeiten, die Unterlagen dazu zusammenzustellen. In grosser Zeitnot durchsuchen wir einen Schrank mit Parteiakten, irgendwo in einem öffentlichen Gebäude. Dort werden viele kleine Dinge aufbewahrt, aber eine Traktandenliste oder ein Protokoll der letzten Sitzung lässt sich nicht finden. Wir sind schon verspätet und können jetzt den Schrank nicht mehr schliessen, die Türe hat sich verklemmt. Das ist ganz dumm, weil hier auch viele andere Leute vorbeikommen und die offene Türe Neugierige anziehen könnte. Wir eilen aber weg und kommen nun einige Minuten zu spät an die Sitzung. Der tüchtige Sekretär hat die Sitzung bereits eröffnet. Eine ganz erstaunlich grosse Zahl von Leuten ist gekommen, mindestens sechzig mögen es sein, der Saal ist voll. Wir kennen längst nicht alle, es hat Menschen hier, die wir nie zuvor gesehen haben. Wir sind im übrigen mit Anzug und Kravatte erschienen, was wir nie zuvor gemacht haben und gewiss von vielen Parteimitgliedern nicht gebilligt wird. Wir sehen aber, dass andere auch mit Anzug und Kravatte gekommen sind, offensichtlich in Erwartung von feierlichen Entscheiden und einer Art Tribunal. Einige mir unbekannte junge Leute tragen sogar grosse, farbige, offenbar modische Kravatten. Die Stimmung ist feindlich, wir haben aber keine Ahnung, was man uns vorwirft. Vielleicht viel zu grosse Passivität und Vernachlässigung der Verantwortung als Parteipräsident. Bis ich das Wort erhalte, verstreicht noch etwas Zeit, ich versuche daher, von einem Mitglied eine Traktandenliste zu erhalten, was aber nicht gelingt. Ich weiss nur, dass auf dieser Liste zwanzig Geschäfte figurieren, eine ganz unmögliche Zahl, die niemals an einem Abend bewältigt werden kann. Ich suche nicht nur eine Traktandenliste, sondern auch Notizpapier und Schreibzeug, beides ist nicht erhältlich. Jetzt endlich erhalte ich das Wort, begrüsse die Anwesenden mit den stets dafür verwendeten seelenlosen dummen Floskeln und tue so, als ob alles in Ordnung wäre. Wir haben eine lange Traktandenliste, sage ich, die wir nur bewältigen können, wenn wir die einzelnen Fragen zur Behandlung an Ausschüsse übergeben, wir können daher heute nicht materiell diskutieren. Wenn wir diskutieren, kämen wir an kein Ende, denn es sind hier sechzig Personen anwesend, und wenn jeder nur fünf Minuten sprechen würden, würde die Versammlung fünf Stunden dauern. Während wir reden, beginnen auch andere zu schwatzen, es wird immer lauter, bis man mein Wort kaum mehr versteht. Ich versuche, mich zum ersten Traktandum zu äussern. Dieses erste Traktandum, soviel weiss ich noch, ist die Wahl eines neuen Präsidenten. Ich weiss, dass das eine Riesengeschichte ist, ein ganzer langer Roman, eine Geschichte, die ich jetzt nicht darlegen kann, denn der Lärm wird immer grösser. Auch in den Nebenzimmern herrscht Lärm, und die Türen zu unserem Sitzungszimmer werden geöffnet. Ich versuche, äusserst summarisch zu berichten, komme aber nicht mehr zu Wort, auch wenn ich sehr laut rede. Wir sind ratlos, wissen nicht, wie es weitergehen soll.

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