Was
für eine Parteiversammlung! Wir haben zu einer Parteiversammlung eingeladen. Es
war höchste Zeit dafür, denn es ist April, und die letzte Versammlung fand vor
sechs Monaten im November des Vorjahres statt. Als Parteipräsident sollten wir
die Versammlung leiten, haben aber Schwierigkeiten, die Unterlagen dazu
zusammenzustellen. In grosser Zeitnot durchsuchen wir einen Schrank mit
Parteiakten, irgendwo in einem öffentlichen Gebäude. Dort werden viele kleine
Dinge aufbewahrt, aber eine Traktandenliste oder ein Protokoll der letzten
Sitzung lässt sich nicht finden. Wir sind schon verspätet und können jetzt den
Schrank nicht mehr schliessen, die Türe hat sich verklemmt. Das ist ganz dumm,
weil hier auch viele andere Leute vorbeikommen und die offene Türe Neugierige
anziehen könnte. Wir eilen aber weg und kommen nun einige Minuten zu spät an
die Sitzung. Der tüchtige Sekretär hat die Sitzung bereits eröffnet. Eine ganz
erstaunlich grosse Zahl von Leuten ist gekommen, mindestens sechzig mögen es
sein, der Saal ist voll. Wir kennen längst nicht alle, es hat Menschen hier,
die wir nie zuvor gesehen haben. Wir sind im übrigen mit Anzug und Kravatte
erschienen, was wir nie zuvor gemacht haben und gewiss von vielen
Parteimitgliedern nicht gebilligt wird. Wir sehen aber, dass andere auch mit
Anzug und Kravatte gekommen sind, offensichtlich in Erwartung von feierlichen
Entscheiden und einer Art Tribunal. Einige mir unbekannte junge Leute tragen
sogar grosse, farbige, offenbar modische Kravatten. Die Stimmung ist feindlich,
wir haben aber keine Ahnung, was man uns vorwirft. Vielleicht viel zu grosse
Passivität und Vernachlässigung der Verantwortung als Parteipräsident. Bis ich
das Wort erhalte, verstreicht noch etwas Zeit, ich versuche daher, von einem
Mitglied eine Traktandenliste zu erhalten, was aber nicht gelingt. Ich weiss
nur, dass auf dieser Liste zwanzig Geschäfte figurieren, eine ganz unmögliche
Zahl, die niemals an einem Abend bewältigt werden kann. Ich suche nicht nur
eine Traktandenliste, sondern auch Notizpapier und Schreibzeug, beides ist
nicht erhältlich. Jetzt endlich erhalte ich das Wort, begrüsse die Anwesenden
mit den stets dafür verwendeten seelenlosen dummen Floskeln und tue so, als ob
alles in Ordnung wäre. Wir haben eine lange Traktandenliste, sage ich, die wir
nur bewältigen können, wenn wir die einzelnen Fragen zur Behandlung an
Ausschüsse übergeben, wir können daher heute nicht materiell diskutieren. Wenn
wir diskutieren, kämen wir an kein Ende, denn es sind hier sechzig Personen
anwesend, und wenn jeder nur fünf Minuten sprechen würden, würde die
Versammlung fünf Stunden dauern. Während wir reden, beginnen auch andere zu
schwatzen, es wird immer lauter, bis man mein Wort kaum mehr versteht. Ich
versuche, mich zum ersten Traktandum zu äussern. Dieses erste Traktandum,
soviel weiss ich noch, ist die Wahl eines neuen Präsidenten. Ich weiss, dass
das eine Riesengeschichte ist, ein ganzer langer Roman, eine Geschichte, die
ich jetzt nicht darlegen kann, denn der Lärm wird immer grösser. Auch in den
Nebenzimmern herrscht Lärm, und die Türen zu unserem Sitzungszimmer werden
geöffnet. Ich versuche, äusserst summarisch zu berichten, komme aber nicht mehr
zu Wort, auch wenn ich sehr laut rede. Wir sind ratlos, wissen nicht, wie es
weitergehen soll.
Freitag, 11. Januar 2013
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